Customer Experience: Ist Künstliche Intelligenz das Einzige, was zählt?

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Der Beginn eines neuen Jahres ist immer ein guter Zeitpunkt, um zurückzublicken und in die Zukunft zu blicken. Eines der zentralen Versprechen für das Jahr 2024 wurde größtenteils eingelöst: die umfassende Erprobung von Künstlicher Intelligenz (KI) im täglichen Geschäft – sowohl für Kunden als auch für Mitarbeiter. Diese Zeit war geprägt von Erkundung, Meinungsbildung und zum Teil radikalen Veränderungen. Im Bereich der Customer Experience (Kundenerlebnis) ist eines klar geworden: Prozessoptimierungen durch Technologie sind keine Wunschvorstellung mehr – und wir sollten es nicht dabei bewenden lassen. Was kommt also als Nächstes?

Mit KI weiter vorankommen – aber wie?

Nach einer Phase großer Euphorie – die manchmal ins Fantastische abdriftete – über die Zukunft der KI hat das vergangene Jahr zu einer realistischeren Einschätzung dessen geführt, was wirklich machbar und wünschenswert ist. Viele Projekte blieben hinter den Erwartungen zurück – nicht unbedingt wegen technischer Grenzen, sondern häufig aufgrund mangelnder Klarheit über die konkreten Anwendungsfälle. Zudem tauchten Fragen nach der Nachhaltigkeit KI-getriebener Geschäftsmodelle auf, insbesondere im Hinblick auf versteckte Kosten, Schwierigkeiten bei der Skalierung und die Erkenntnis, dass KI-Initiativen mit klaren Strategien verankert sein müssen.

Dennoch war das Experimentieren unverzichtbar. Hätten wir die tatsächlichen Kosten von Anfang an gekannt, wäre der KI-Boom wohl etwas gemäßigter verlaufen.

Im Kundenservice haben diese Experimente einige harte Wahrheiten zutage gefördert: Menschen werden so bald nicht ersetzt, Einsatzfelder sind nicht unbegrenzt, und das Skalieren von KI stößt auf Herausforderungen bei Echtzeit-Betrieb und Datenschutz. Gleichwohl gab es auch erfolgreiche Versuche – besonders im Qualitätsmanagement und bei der Compliance, wo der Vergleich eines Zustands mit einem festen Standard eine Kernkompetenz von KI ist.

Im Remote-Kundenservice liegt die nächste große Herausforderung in der Echtzeit-Sprachanalyse im großen Maßstab und zu vertretbaren Kosten. Da über 70% der Interaktionen weiterhin per Sprache stattfinden, ist der Wettlauf um Echtzeit-Coaching-Tools, die den „Next Best Action“-Vorschlag geben, in vollem Gange – und bringt die Vision des augmentierten Kundenberaters näher an die Realität.

KI wird zum Must-have – doch wir müssen ihre langfristige Bedeutung für die Unternehmensplanung kritisch beurteilen, ohne ihre kurzfristigen Fähigkeiten zu überschätzen.

Gibt es Personalisierung wirklich?

Jahr für Jahr bleibt die Kluft zwischen Marketing und Kundenservice bestehen. Das klassische Marketing konzentriert sich auf Kundensegmente und Personas, um Botschaften und Journeys individuell zu gestalten, mit dem Ziel, die ideale Personalisierungsmaschine aufzubauen – insbesondere in digitalen Kanälen. Gleichzeitig hat es der Kundenservice mit echten Menschen zu tun, in all ihrer Komplexität, Einzigartigkeit und Emotionalität.

Dieses Auseinanderdriften führt oft zu Frust: Marketing-Teams empfinden ihre Arbeit als verkannt, wenn Servicemitarbeitende vom Skript abweichen, wohingegen die Serviceagenten das Marketing als realitätsfern wahrnehmen, da Kundinnen und Kunden nur als Zahlen oder Durchschnittswerte gesehen werden. Ist es da ein Wunder, dass manche Kundenerlebnisse enttäuschen?

Wahre Personalisierung passiert nur im Moment. CRM-Tools müssen echte Beziehungsnähe ermöglichen. Doch selbst hier nutzen Marketing und Kundenservice meist das gleiche Kürzel – CRM – meinen aber völlig unterschiedliche Systeme. Und manchmal kommen sogar dieselben Anbieter ins Spiel, was zur weiteren Verwirrung beiträgt.

Customer Experience und Kundenservice werden erst dann wirklich persönlich, wenn Marketing und Service – sowie deren Tools – vollständig aufeinander abgestimmt sind. Das kommende Jahr muss genutzt werden, um dieses Bewusstsein zu schärfen und konkrete Brücken zu schlagen.

Neue Geschäftsmodelle für den Kundenservice entwickeln

Mit der technischen und industriellen Entwicklung muss das Customer-Experience-Ökosystem Partnerschaften und Modelle fördern, die wirtschaftliche Effizienz, Menschlichkeit und Innovation miteinander verbinden.

Die Industrialisierung der KI zwingt dazu, die Zusammenarbeit zwischen Marken und Dienstleistern neu zu überdenken. Mit Versprechungen beinahe kostenloser KI und Geschäftsmodellen, die auf Cents je Interaktion ausgelegt sind, liegt es nahe, sich auf Kosten anstatt auf Wert zu konzentrieren. Wenn eine KI-Interaktion 0,25 € oder 0,70 € kostet – verglichen mit 5 € bei einer menschlichen – warum dann nicht alles automatisieren?

Doch selbst wenn vollständige Automatisierung technisch möglich wäre (was heute noch nicht der Fall ist), wäre sie überhaupt wünschenswert? Und für wen? Wir dürfen nicht vergessen, dass allein in Frankreich so viele Menschen im Remote-Kundenservice arbeiten wie in einer Stadt von der Größe Dijons. Wer trägt die Verantwortung für die sozialen und wirtschaftlichen Folgen, wenn eine Marke das Wertvollste – die Beziehung zu ihren Kund:innen – Maschinen überlässt?

Trotzdem – der Wandel ist in vollem Gange und muss mit großem Verantwortungsbewusstsein gestaltet werden. Die Kundenservice-Branche muss sich enger mit der Tech-Branche zusammenschließen, um das Kundenerlebnis zu verbessern und Synergien zu schaffen, die zeigen, welchen Wert die Verbindung von Automatisierung und menschlichem Know-how hat.

Doch Vorsicht: Der Remote-Kundenservice ist eine der wenigen Branchen, die auf menschlicher Verbindung fußt. Der Eifer, neue Technologien zu integrieren, könnte dazu führen, dass das Herzstück – die Beziehung – ins Hintertreffen gerät und zum bloßen Prozess verkommt.

Kundenservice muss immer, zuallererst, im Dienst des Kunden stehen – nicht nur im Dienst des Systems.

 

Martin Dufourcq, Chief Strategy and Solutions Officer, Armatis

Veröffentlicht am 25. Januar 2025 bei Siècle Digital

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